Der Wind der inneren Freiheit: Liao Yiwus „Wiedergeburt der Ameisen“

Saarbrücken · Liao Yiwu ist einer der bekanntesten chinesischen Dissidenten. 2012 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Nun legt Yiwu seinen ersten Roman vor.

"Das Vergangene ist nicht tot", schrieb William Faulkner einmal, "es ist nicht einmal vergangen." Diese Einsicht dürfte umso mehr gelten, je stärker man versucht, die Erinnerung an unliebsame Ereignisse zu unterdrücken. Wie in China, wo jede Debatte über die Niederschlagung der Protestbewegung von 1989 verboten ist. Dabei wurde damals von den kommunistischen Machthabern ganz Peking "in ein blutiges Militärcamp" verwandelt, wie es in Liao Yiwus Roman "Die Wiedergeburt der Ameisen" heißt.

Eindringlich und bildgewaltig erzählt dieses große Werk davon, warum das Gestern in China gegenwärtig bleiben muss, trotz aller "Umerziehungslager" oder Internet-Zensur. Bezeichnend ist der Wunsch, den der Autor seinem Protagonisten und Alter Ego Lao Wei in den Mund legt: einmal auf dem einst von hoffnungsfrohen Studenten besetzten Tiananmen-Platz Flöte zu spielen.

Hierzulande erhielt Yiwu 2012 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, in China darf seit seiner Flucht 2011 nicht einmal mehr sein Name genannt werden. Was zu dem Kuriosum führt, dass die deutsche Übersetzung seines Romandebüts zugleich die Welterstausgabe ist. Bekannt war Yiwu bislang vor allem für seine Gespräche mit Entrechteten und Geächteten der chinesischen Gesellschaft und sein visionäres Gedicht "Massaker" von 1989, für das er vier Jahre lang inhaftiert war. Doch zeigte der Gefängnisbericht "Für ein Lied und hundert Lieder" (2011) seine Qualitäten als Erzähler und Prosaist.

Von den Jahren im Gefängnis handelt unter anderem auch sein Romandebüt. Das sogar in der Zelle begonnen wurde, während Yiwus Haftzeit ab 1992. Im Vorwort berichtet der heute 58-Jährige, wie er damals Tag für Tag auf brüchigem Papier heimlich seine "ameisengleichen Schriftzeichen" kritzelte. Und sich so einen Raum der inneren Freiheit imaginierte, der ihm trotz ständiger Misshandlungen das psychische Überleben ermöglichte. "Eines hatte er mit der Zeit begriffen: Freiheit war ein Raum, den man aus sich selbst heraus schaffen muss. Alles andere war nur ein Echo im Wind der inneren Freiheit." Das erst jetzt, 25 Jahre später, im Berliner Exil vollendete Werk weist deutliche Parallelen zwischen Yiwus eigener Lebensgeschichte und der seines Protagonisten auf. Das betrifft die familiären Verhältnisse ebenso wie Lao Weis Verurteilung als "Konterrevolutionär" wegen eines Gedichts. Oder die im Roman auftretenden chinesischen Intellektuellen, darunter Freunde des Autors wie den - noch immer inhaftierten - Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo.

Von expressiver Drastik bis zu düsterem Sarkasmus zieht Yiwu viele Stilregister. Überwältigend ist seine überbordende Einbildungskraft - die immer neuen Ausflüge ins Fantastische, Burleske, ja sogar Pikareske, mit Szenen voller Komik. Wovon dieser eindrucksvolle Erinnerungsroman berichtet, das sind die fortwährenden Kollisionen des traditionellen Chinas mit der von der Partei herbeigepeitschten Moderne. Die "Wiedergeburt der Ameisen": Das sind nicht nur die ameisengleichen Schriftzeichen auf Gefängnispapier - es sind auch die Millionen und Abermillionen Opfer der Machthaber in Peking.

Liao Yiwu: Die Wiedergeburt der Ameisen. S. Fischer, 576 Seiten, 28 €.

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