Selbstüberwindung als radikalste Kunstform

Saarbrücken · Sie gilt als die berühmteste Performancekünstlerin weltweit: 750 000 Besucher wollten 2010 ihr legendäres „The artist is present“-Sit-in im New Yorker MoMa sehen. Nun hat Marina Abramovic ihre Memoiren geschrieben. Sie erklärt darin die Prinzipien ihrer radikalen Körperkunst – und deren Wurzeln in Meditation und äußerster Selbstdisziplin.

 Auto-Polaroid „White Mask“ von Ulay (1973, 1974). Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Courtesy of the Artist.

Auto-Polaroid „White Mask“ von Ulay (1973, 1974). Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Courtesy of the Artist.

Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Courtesy of the Artist.

Bis heute schläft sie überall ganz außen auf der Bettkante, ohne sich nachts zu bewegen - eine ihr als Kind von der Mutter aufgezwungene Form der Selbstdisziplin. Um die kleine Marina schwimmen zu lehren, ruderte ihr Vater mit ihr auf einen See hinaus, schmiss sie hinein und ruderte davon. Auch wenn manches zugespitzt sein mag in Marina Abramovic' Autobiografie, für die sie dem US-Autor James Kaplan 700 Stunden lang ihr Leben erzählte: Abramovic' Willensstärke, das zeigt ihr Buch "Durch Mauern gehen", ist der Schlüssel zu ihrer Performancekunst. Ihre Kindheit in Belgrad war, allem Luxus zum Trotz (ihre Mutter war hohe Kulturfunktionärin unter Tito), die Hölle. An ihrem 16. Geburtstag schnitt sie sich die Pulsadern auf. Noch mit Mitte 20 war Abramovic jeden Abend um 22 Uhr auf Weisung ihrer Mutter zuhause. Zu einer Zeit, als sie in Belgrad Joseph Beuys kennengelernt hatte, der 1972 in Edinburgh auch Abramovic' erste Performance sah: Für "Rhythm 10" stach sie auf weißem Papier abwechselnd mit zehn Messern zwischen die Finger ihrer linken Hand. Tonbandgeräte zeichneten ihr Stöhnen bei jeder Verletzung auf.

Mit "Rhythm 10" hatte Abramovic ihr Kunst- und Lebensthema gefunden, das sie seither in immer neuen Variationen über Jahrzehnte hinweg in einer überwältigenden (und künstlerisch oft bezwingenden) Konsequenz durchexerziert hat: immer aufs Neue die Grenzen der physischen Belastbarkeit, der Scham, des Schmerzes - und die Grenzen des Kunstbetriebes zu überwinden. Mal lag sie stundenlang nackt auf einem Eisblock, mal peitschte sie sich aus, mal gab sie Galeriebesuchern Geräte an die Hand (etwa eine geladene Pistole und Messer), um sie zu malträtieren. In ihren (einerseits sehr offenherzigen, andererseits immer wieder mit Celebrity-Klatsch und Groschenheft-Liebesgeständnissen ermüdenden) Memoiren macht Abramovic deutlich, dass sie mit ihren Performances immer eine Art Heilsbotschaft verbunden hat: Seht, wenn ich mit meiner Angst vor dem Leiden fertig werde, dann werdet Ihr es auch!

Abramovic, 70 Jahre inzwischen und in New York lebend, schreibt, dass sie in ihren verstörenden Kunstaktionen "die totale Freiheit" erfahren habe, weil sie im Zuge ihrer Angst- und Schmerz-Inszenierungen die Energie der Besucher dazu nutzte, ihren Körper über seine Grenzen zu treiben und - weil geschult in fernöstlichen Meditationstechniken und erfahren in Selbstkontrolle infolge jahrelangen mütterlichen Drills - so andere Bewusstseinszustände zu erreichen: "Der Schmerz war wie eine Wand, durch die ich hindurchgegangen war, um auf der anderen Seite wieder herauszukommen." Was sie dort erspürte, bezeichnet sie an einer Stelle des Buchs als "flüssiges Wissen" - die Teilhabe an etwas, das jenseits unseres Zeit-Raum-Kontinuums liegt.

Abramovic' Autobiografie liefert nicht nur ein großes Credo der Selbstüberwindung, sie ist auch ein (etwas geschwätziges) Lehrstück über die schnöden Gesetze des Kunstmarktes, der immerzu Stars braucht und kreiert. Als sie mit ihrem langjährigen Partner Ulay (Text links) in den späten 70ern auf der Suche nach einer "dritten Wesenheit" jenseits des Weiblichen/Männlichen ihre legendären, provokanten Nackt-Performances aufführte, erhielten beide oft nicht mal ein Honorar. Heute hat Abramovic, vermögend geworden, die Regeln kommerzieller Selbstvermarktung längst perfektioniert, in NY ein eigenes Institut gegründet, wo sie - Kunst ein Stück weit zur Religion erhebend - ihre "Abramovic-Methode" lehrt.

Ihre Performancekunst vollführt sie wie ein Mantra, das ihren Körper und Geist stählt. Um für "The artist is present" im MoMa zehn Wochen lang sieben Stunden am Tag regungslos auf einem Stuhl sitzen zu können, trainierte sie ein Jahr lang: "Es war das reinste NASA-Programm." Die Performance wurde zum größten Triumph ihres Künstlerlebens. Viele derer, die ihr im MoMa gegenübersaßen, brachen in Tränen aus. Die große Schmerzensmutter weinte mit ihnen. "Ich glaube, die Leute wurden überrascht von dem Schmerz, der in ihnen hochkam. Ich bin davon überzeugt, dass die Menschen nie wirklich in ihr Inneres schauen", schreibt Abramovic. Es ist dieselbe Frau, die in ihre Geburtstagcocktails gern jeweils eine Träne von sich hineinträufeln lässt. Manchmal liegt das nahe beieinander: Spiegel sein für andere und maßlose Selbstbespiegelung.

 „Imponderabilia“: Performance Ulays & Abramovic' 1977, Bologna. Foto: Mario Carbone, Courtesy of the Marina Abramovic Archives and Lima

„Imponderabilia“: Performance Ulays & Abramovic' 1977, Bologna. Foto: Mario Carbone, Courtesy of the Marina Abramovic Archives and Lima

Foto: Mario Carbone, Courtesy of the Marina Abramovic Archives and Lima

Marina Abramovic (mit James Kaplan): Durch Mauern gehen. Autobiografie. Luchterhand, 475 Seiten, 28 €.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort