Bloßgestellt und ausgestellt

Dresden · Donald Trump kennt scheinbar keine Scham, die Nackt- und Sexindustrie auch nicht. Dennoch gibt es das Schamgefühl, wie eine Ausstellung im Dresdner Hygiene-Museum zeigt.

 Schambedeckung: Bruce Richards' ,,Grand Tour” (2014 © Artist & Jack Rutberg Fine Arts). Foto: Oliver Killig

Schambedeckung: Bruce Richards' ,,Grand Tour” (2014 © Artist & Jack Rutberg Fine Arts). Foto: Oliver Killig

Foto: Oliver Killig

Jüngst hat eine Frau aus Texas Aufnahmen in die sozialen Medien gepostet, die zeigen, wie sie ihren zwei kleinen Söhnen ihre Brüste darbietet. Das eine Kind saugt hingebungsvoll, das andere unterbricht das Stillen mehrfach und spielt lustvoll mit einer Brust der Mutter. Im Internet brach ein Shitstorm los, Hunderttausende empörte die mütterliche Freizügigkeit, Grundtenor: diese Schlampe.

Merkwürdig daran war, dass niemand es für nötig hielt, das zu belegen. Das beweist, was die Psychologin Brené Brown von Universität Houston den Empörten über eine ihrer Meinung nach unheilige Mutter entgegenstellte: "Scham fühlt sich für Männer und Frauen gleich an, aber sie ist nach Geschlecht organisiert." Männer empfinden Scham meist, wenn sie eine erwartete Leistung nicht vollbringen, Frauen schämen sich vor allem wegen des Aussehens ihres Körpers. Nach Psychologen, Soziologen, Hirnforschern, Ethnologen und anderen Wissenschaftlern befassen sich nun auch Politologen mit dem Thema Scham, seitdem Donald Trump in seinem Auftreten bei den Wahlen keine Rücksichten mehr nahm - und zum Präsidenten des mächtigsten Staates wurde. Warum wählen Menschen, vor allem Frauen, einen, der sie heruntermacht, angrabscht, offenkundig nur als sexuelle Objekte wahrnimmt?

Das Dresdner Hygiene-Museum traut sich seit Jahren an interessante, auch provokante Ausstellungen. Nun wieder. Warum sind Populisten, die oft keine starken Argumente haben, aber laut sind, so erfolgreich? Warum brüllt die Pegida "Schämt euch!" und Lokalpolitiker ducken sich weg. Und warum gibt es im öffentlichen Raum immer mehr nackte Models zu begaffen - und niemand schämt sich über solche Darstellungen?

Die Kuratoren sind das Thema medizinisch, historisch und ethnologisch angegangen. Scham wird als individuelles und soziales Gefühl empfunden, sorgt für rot werdende Gesichter und gesenkte Blicke. Das geht nie ohne Publikum: Wir schämen uns nur vor anderen. Weil eine Norm gebrochen wurde, ein verborgenes Gefühl zum Vorschein kam, wir eine schlechte Figur abgegeben oder unsere Lust preisgegeben haben. "Scham hat nicht an Bedeutung verloren", sagt Kurator Daniel Tyradellis, "sie wechselt nur ihre Gestalten." Wenn uns Scham überfällt, wollen wir am liebsten unscheinbar sein. Nichts schämt uns mehr als unsere Scham. Mitmenschen empfinden sie als Schwäche oder Fehler, machen sich lustig darüber. Das peinigt vor allem Kinder und Halbwüchsige. Immer wieder stellen Leichtsinnige, meist sehr jung, ihren nackten Körper zur Ansicht ins Netz. Regelmäßig setzt Cybermobbing ein und endete mehrfach im Suizid. Aus Verzweiflung, sich nicht mehr wehren zu können.

In Dresden ist das als soziales Experiment angelegt. Heimlich wird das Gewicht der Besucher gemessen und an eine öffentliche Wand projiziert. Ein "Eye-Tracker" erfasst präzise die Blicke der Herumlaufenden, etwa auf Fotos nackter Menschen. Manche Exponate sind nur einsehbar über Gucklöcher, die Bewegung dorthin macht uns für andere zum Voyeur. Ein Schrank von Friedrich Schiller gilt als großartiges Möbelstück eines geschmackvollen Dichters, bis sich herausstellt, dass es ein von KZ-Gefangenen in Zwangsarbeit erstellter Nachbau ist. Ein Bettel-Roboter bekommt mehr Geld zugesteckt als ein echter Bettler, weil die Maschine dem Geber nicht in die Augen schaut und daher keine Beschämung abfordert. Ein Video zeigt weiße Touristen in Papua-Neuguinea, die Einheimische beäugen und fotografieren wie Zootiere.

Leben wir in schamlosen Zeiten? "100 Gründe, rot zu werden" zeigt: mitnichten. Die Scham ist auch heute noch tief in uns verankert. Nicht immer, aber manchmal erweist sich das durchaus als moralisches Plus.

Bis 5. Juni. Di bis So: 10-18 Uhr; Katalog 19,90 €.

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