Des Störenfrieds Gesellschaftsnutzen

Saarbrücken · Den Störenfried gibt es schon lange. Zu Unrecht ist er negativ besetzt. Eine Würdigung erfährt der Anstifter schöpferischer Unordnung nun durch den Philosophen Dieter Thomä. In einem lesenswerten Buch erzählt er vom Vorzug unbequemer Zeitgenossen.

"Der puer robustus schlägt zu, eckt an, begehrt auf. Er spielt nicht mit, gibt nicht klein bei (. . .) Der puer robustus - der kräftige Knabe, der starke Kerl - ist ein Störenfried." Mit diesen Worten leitet der 1959 geborene Dieter Thomä, Professor für Philosophie in St. Gallen, seine "Philosophie des Störenfrieds" ein. Vom Stichwortgeber Thomas Hobbes über den Neo-Maoisten Alain Badiou bis zum Musterbeispiel des intellektuellen Störenfrieds, Slavoj {Zcaron}i{zcaron}ek, zeichnet Thomä die Konjunkturwellen des puer robustus an markanten Punkten der politischen Philosophie und der Kulturgeschichte nach.

Wenn der Autor nicht nur in sein Thema, sondern auch in die sympathischeren Spielarten seines Helden verliebt ist, mag das an einem Detail seiner eigenen Biografie liegen. In der Danksagung heißt es: "Ich möchte zu allererst denen danken, die mich mit dem Störenfried in mir selbst bekannt gemacht haben, nämlich meinen Mitbewohnern in der Regenbogenfabrik in Berlin-Kreuzberg in den 80ern." Aus der Hausbesetzerszene auf den Philosophie-Lehrstuhl - ein Beispiel für das intellektuelle Potenzial, das Störenfriede auf die Waagschale ihrer Beurteilung legen. Die negativen Zeugnisse über derartige Anstifter von Unordnung liegen in der anderen Schale und werden von Thomä ebenfalls genannt und auf oft gelungene Weise philosophisch auseinandergenommen.

Das fängt mit Thomas Hobbes an, in dessen "Leviatan" Störenfriede keinen Platz haben - ganz im Gegensatz zu Rousseau und seinem "Émile". Weiter geht es zu Diderot, dessen "Rameaus Neffe" eine ambivalente Figur abgibt. Damit sind die drei Grundmuster herausgestellt, nach denen sich der puer robustus beurteilen lässt. Sein philosophischer Biograf zerpflückt alle diese frühen wie auch alle späteren Erscheinungsformen und widerlegt ihre Begründungen: Der Störenfried tritt in immer neuer Gestalt auf, wechselt virtuos sein Aussehen und Gehabe, widersetzt sich der Kategorisierung, lebt für die schöpferische Unordnung. Als "Freigelassene der Schöpfung" taucht er als Franz und Karl Moor in Schillers Drama "Die Räuber" auf, als "dummes Kind" bei Richard Wagner in Gestalt des "Siegfried". Alexis de Tocqueville gewinnt dem puer robustus in seinem Spagat zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich neue Konturen ab. Karl Marx sieht in ihm den Revolutionär und Lumpenproletarier, den er nicht nur in der ausgebeuteten Klasse ausmacht.

Ob alle Psychoanalytiker den Weg mitgehen, den Dieter Thomä zu Ödipus als Freuds puer robustus sucht, wird die Diskussion über dieses Buch zeigen, das durchaus viel Stoff für Kontroversen birgt. Vernichtend ist die Kritik des Autors an den staatsphilosophischen Thesen eines Carl Schmitt, Leo Strauss oder Helmut Schelsky. So wie er nach rechts austeilt, geht es in gleicher Schlagkraft aber auch gegen links.

Thomäs philosophische, politische und anthropologische Erörterung des Störenfrieds liest sich, erstaunlich genug, wie ein Abenteuerroman und endet mit einer Volte, die man lange vermisst hat: Den idealen puer robustus findet Thomä in Ibsens "Nora", die ihrem Helmer auf dessen Behauptung antwortet, sie verstünde die Gesellschaft nicht, in der sie lebt: "Das tu ich auch nicht. Aber jetzt will ich mich mit ihr auseinandersetzen. Ich muss versuchen dahinterzukommen, wer recht hat, die Gesellschaft oder ich."

Dieter Thomä: Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds. Suhrkamp, 715 Seiten, 35 €.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort