Der gewichtige Unterschied zwischen 50 Sekunden und 20 Minuten

Luxemburg · Die Veröffentlichung des Rohmaterials jenes Interviews, das Anfang Oktober in Luxemburg die vermeintliche „Affäre Lunghi“ ausgelöst und einen Monat später den Rücktritt von Mudam-Direktor Enrico Lunghi zur Folge hatte, rückt die im Großherzogtum seither heftig diskutierte Causa in ein völlig neues Licht. Das Material wirft die Frage auf, wie seriös das publizierte Interview war, das zur Einleitung eines noch laufenden Disziplinarverfahrens gegen Lunghi führte.

Screenshot aus dem besagten RTL-Interview, in dem Lunghi der Geduldsfaden riss. Foto: RTL

Screenshot aus dem besagten RTL-Interview, in dem Lunghi der Geduldsfaden riss. Foto: RTL

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Am Ende musste der Sender RTL offenbar dem Druck der sozialen Medien nachgeben. Dort machen seit dem Rücktritt des Direktors des Luxemburger Nationalmuseums Mudam, Enrico Lunghi, nicht nur Solidaritätsbekundungen die Runde, sondern wird auch Aufklärung über die Hintergründe einer Anfang Oktober ausgestrahlten 50-sekündigen Interview-Szene gefordert, die vor zehn Tagen zu Lunghis Demission führte (wir berichteten). Am Montag stellte RTL das gesamte Rohmaterial besagten Interviews online (abrufbar unter www.rtl.lu/kultur/976354.html ), in dessen Verlauf Lunghi die RTL-Mitarbeiterin Sophie Schram vor laufender Kamera am Arm gepackt hatte. Sie war zehn Tage später angeblich deshalb zwei Tage lang krankgeschrieben worden - was RTL publik gemacht und so die Affäre losgetreten hatte.

Das Rohmaterial (fast 20 Minuten) ist aufschlussreich: 1) Anders als die gesendete Fassung dies suggerierte, wurde das Interview - Lunghi sollte sich darin dafür rechtfertigen, eine lokale Künstlerin nach 2012 nicht erneut im Mudam auszustellen - nach Lunghis Handgreiflichkeit minutenlang fortgesetzt, ohne irgendeine erkennbare Reaktion von Schram (oder ihrem Drehteam). 2) Das gesamte Material enthält keinerlei Hinweise darauf, dass der Vorfall zehn Tage später eine Krankschreibung veranlasst haben könnte. Luxemburgs Premier Xavier Bettel, zugleich Kultur- und Kommunikationsminister, aber ließ ein Disziplinarverfahren gegen Lunghi einleiten. Nachdem er sich schriftlich bei Schram entschuldigte und der Verwaltungsrat des Mudam (Vorsitz: Erzherzogin Stéphanie) Lunghi weiterhin sein Vertrauen aussprach, schien der sofort zum großen Eklat hochgekochte Fall beendet.

Ein Trugschluss: Bettel und seine Kulturbürokratie ließen das Disziplinarverfahren weiterlaufen, ohne Lunghi selbst anzuhören. Als er Anfang November seinen Rücktritt einreichte, ließ er durchblicken, dass er sich als Opfer einer Diffamierungskampagne sieht. Im Licht des nun publizierten Original-Interviews gewinnt diese Version an Plausibilität. Wurde Lunghis Übergriff dazu benutzt, ihn loszuwerden? Nicht erst seit der 53-Jährige 2009 Direktor des Mudam wurde, auch zuvor als Leiter des Casino, Luxemburgs Labor für Gegenwartskunst, erwarb sich Lunghi den Ruf eines mutigen, auch sperrige Kunst propagierenden Kurators.

In der internationalen Kunstszene ist die Unterstützung für ihn groß. Knapp 100 Künstler, Kuratoren und Museumsleiter (von der Londoner Tate Modern über das Pariser Grand Palais bis zum Madrider Museo Centro de Arte Reina Sofia) schreiben, die Umstände des Falles seien "eine Bedrohung für uns alle". Unterzeichnet haben auch die Luxemburger Kevin Muhlen (Leiter des Casino) und Jo Kox (Président du Fonds culturel national). Nicht erst seit Ex-Premier Jacques Santer das Krisenmanagement Bettels rügte, steht der Regierungschef in der Kritik. Er will das für Ende November avisierte Ergebnis des Lunghi-Verfahrens abwarten.

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