Schrecklich schön: Bilder mit fernem Klang

Neunkirchen · Vor vier Jahren hatte die in Saarbrücken lebende Malerin Andrea Neumann ihre letzte große Einzelausstellung, in St. Wendel. Danach entstanden die etwa 40 Werke, die jetzt in Neunkirchen unter dem Titel „abkommen“ zu sehen sind. – Ein Erlebnis.

 „Abbild“: Mutter und Tochter? Andrea Neumanns Bilder feiern die Ungewissheit.

„Abbild“: Mutter und Tochter? Andrea Neumanns Bilder feiern die Ungewissheit.

Foto: Neumann

Am Werk "Control" lässt sich viel erklären. Es zeigt einen Läufer in federnd-vorwärtsstrebender Bewegung. Beherrscht er die Energien noch oder treiben sie ihn? Neumanns Figur scheint jedenfalls einen Triumph zu durchleben. Doch der zurückgeworfene Oberkörper könnte auch etwas anderes bedeuten - Schmerz? Ist der weiße Fleck am rechten Knie ein Verband? Da quält sich also jemand zum Sieg. Wir verirren uns in einem Labyrinth.

Außerdem irritiert, dass Andrea Neumann einerseits eine ungeheure Dynamik entfaltet, andererseits die Szene merkwürdig still stellt, sie einfriert. Wie wahr: Diese Bilder funktionierten als Zeitraffer und Zeitlupe in einem. So hieß es in einem Katalogbeitrag zur letzten großen Einzelausstellung; das war 2012 im St. Wendeler Mia-Münster-Haus. Oft malt Neumann nach (historischen) Fotos, Menschen in Augenblicks-Momenten: Angeklagte beim Schwören oder Rugby-Spieler. Diffus und wolkig die Formen, gesichtslose Gespenster die Menschen, vieldeutig die Titel. "Möglichkeitsform" heißt ein Werk, es könnte als Neumannsches Motto dienen. Suggeriert werden ein Ährenfeld, Strand, vanillefarbene Luftigkeit, Ferienfeeling. Eine Gestalt sieht man bäuchlings lesend, die andere, auf dem Rücken, merkwürdig starr. Tot? Auszuhalten ist der Widerstreit der Wahrscheinlichkeiten, alles ist mysteriös, gerne auch monströs - wie die übergroße Hand eines Mannes am Rednerpult oder die dunkelrot glänzende Blutlache vor einer Frau im Spagat.

Unheil flirrt über vielen Szenen, die kaum mehr bieten als schemenhaftes visuelles Material. Neumann wählt natürliche, gedämpfte, kreatürliche Farben, vordringlich sand und grau. Arbeitet formal reduziert, mit Spritzern, Wischern und Leerstellen. Amorphe Formen schälen sich aus einer Art Urmasse heraus, fungieren als Auslöser, um ein sinnhaftes Ganzes zu komponieren.

Am stärksten, ja geradezu überwältigend funktioniert dies beim Werk "Ohne Titel" (2014). Erkennbar wird eine Hyäne mit typischer Fellmusterung und in charakteristischer Duckhaltung - obwohl Neumann doch vermeintlich nur Flecken und Striche übereinander legt. Der Saarbrücker Museumschef und Vorstand der Stiftung Kulturbesitz, Roland Mönig, hat bei der Vernissage der Ausstellung ausgeführt, dass es einem vor diesen Werken Angst und Bange werden muss, was man denn noch so alles darin entdeckt. In "twist" (2015) etwa schwingt sich ein Trapezkünstler nach oben - oder stürzt er gerade ab? Eine Frau mit Schürze - eine Köchin - beugt sich zu einem Häschen nieder. Wird sie es streicheln oder wird sie es packen, um es zu töten ("Votiv", 2015)? Neumann erforscht die Kippmechanik unserer Wahrnehmung und die Nischen, in denen Schrecken nistet.

Besonders eindrucksvoll sind ihre hauchdünnen Farbverläufe, die aquarellartige Transparenz erzeugen und Hintergründe zu Lichtspeichern machen, die ein eigentümlich sphärisches Flirren frei geben. Diese Bilder kommen aus der Ferne, sind kognitiv kaum zugänglich. Man spürt Stimmung, Klang - und Sog.

Bis 8. Januar 2017; Eintritt frei, Künstlergespräch: 11.12., 15 Uhr, öffentl. Führungen: 13.11. und 26.12., 15 Uhr. Städtische Galerie Neunkirchen, Marienstraße 2, www.staedtische-galerie-neunkirchen.de

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