Ist Mitgefühl wirklich so rein und edel?

Saarbrücken · Warum fühlen, warum leiden wir mit? Und ist das wirklich ein Gefühl ohne Hintergedanken? Die amerikanische Autorin Leslie Jamison versucht das in einer bunten Mischung aus Essay, Reportage und Erzählung zu erklären.

James Earl Ray war der Mörder von Martin Luther King. Als er in Tennessee aus dem Gefängnis ausbrach, war ein Großaufgebot der Polizei auf seinen Spuren. Sie fanden den Killer nach 51 Stunden; nach der aberwitzig schwierigen Flucht durch eine nahezu undurchdringliche Wildnis hatte er aufgegeben. Daran erinnert heute der Barkley Marathon, der härteste seiner Art. Die Strapazen sind grauenhaft, die Läufer brauchen nicht nur Kompass, Verbandszeug und Schmerztabletten, mit Elektrolyttabletten halten sie sich wach. Warum tut sich das jemand an?

Leslie Jamison, 32, hat sich die Quälerei angeschaut und mit Teilnehmern gesprochen. Sie hätten sich, schreibt sie, der "Idee des Schmerzes so radikal verschrieben", dass sie nach dem Schmerz strebten und der Verstand ausgeschaltet werde, weil er "vor Schmerz taub und gläsern geworden ist". Menschen, die diesen Marathon schaffen, genießen gesellschaftliches Ansehen. Andere nehmen teil an ihrem Kampf, leiden und zittern mit ihnen. Jamison hat keine Antworten darauf, warum das so ist. "So wie die Dinge liegen, kann ich mich keinen Zentimeter bewegen und keinen Satz zu Ende bringen, ohne in eine Krise der Zuschreibungen und mitschwingenden Bedeutungen zu trudeln", schreibt sie.

Empathie, Mitgefühl, ist ein menschlicher Urwunsch. Alle möchten verstanden werden in dem, was sie tun; sie wollen, dass andere sich in sie einfühlen. Nur so kann ein kollektives Verständnis entstehen, warum wir da sind, das Zusammenleben versuchen, wahrgenommen werden, lieben. Aber wie viel Empathie haben wir von Natur aus? Und wie stark ist die kulturelle Prägung? Jamison hat versucht, das in "Empathie-Tests" zu ermitteln. Sie hat etwa in simulierten Sprechstunden vor Medizinstudenten eine Traumatisierte gemimt. Ihre Lehre hier wie in anderen Erprobungen: "Empathie ist das Produkt einer Anstrengung, dieser glanzlosen Cousine des Impulses." Nach einer Abtreibung wird sie nachts von Krämpfen gebeutelt, während ihr Lebensgefährte schläft. Sie fühlt sich verlassen, weil nicht geschieht, was sie braucht: "Er soll fühlen, dass ihre Herzen in genau demselben Rhythmus schlagen, perfekt synchronisiert." Sie erlebt Empathie-Grenzen: Dass nicht jeder zur Einfühlung bereit und fähig ist, weil er den anderen Schmerz nicht nachempfinden und teilen kann. Ohne Empathie gehen Beziehungen jeder Art zugrunde. Aber sie ist kein reines und edles Gefühl, sondern eines mit Hintergedanken. "Wir sorgen uns um andere, weil wir wollen, dass andere sich um uns sorgen", sagt Jamison, die in New York englische Literatur lehrt. Eine andere Facette falsch verstandener Empathie nennt sie "Inpathie", was das bloße Behaupten von Empathie zum Zwecke der Ausgrenzung meint: Man will sich nicht mit Fremdem konfrontieren, um sich nicht zu belasten.

Seit Susan Sonntag und Joan Didion hat niemand mehr so aufregende Essays geschrieben, urteilte die "New York Times". Leslie Jamison trifft einen Nerv, in ihrer bunten Mischung aus Essay, Reportage und Erzählung versucht sie das Wesen des Menschen zu erfassen, seine Seele, seinen Geist. Deshalb hat sie nicht in der Distanz geschrieben, sondern ist eingedrungen in Bereiche, die sie nicht kannte.

Leslie Jamison: Die Empathie-Tests. Über Einfühlung und das Leiden anderer. Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann. Hanser, 336 S., 21,90 €.

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