Beim Barthes des Propheten

Saarbrücken · Smartphone, Selfie und Liebe heute: Dazu hätte Roland Barthes wohl viel zu sagen. Am 12. November wäre er 100 Jahre alt geworden. Wir blicken auf das Leben des großen Kulturtheoretikers, der 1980 starb.

Er war ein Zeichendeuter. Was hätte Roland Barthes (1915-1980) gesagt zum Foto, auf dem Angela Merkel in der Umarmung eines Flüchtlings aus Syrien in das Handy des Mannes lächelt? Dessen Besitzer hat die Kanzlerin an sich gezogen, die Köpfe beider berühren sich. Mit einer Hand stützt sie sich an der Brust des Mannes ab, um ihm nicht zu nahe zu kommen. Die Körper sind in der Menge zusammengequetscht. Fotos sind mehr als Ausschnitte der Realität, sie sind ein Zeichen, hat Barthes gelehrt, sie haben eine Botschaft, eine verdeckte Bedeutung. Sie können vielfältig gedeutet werden. Sie sind auch ein Symbol. Dieses Foto von Merkel mit dem Flüchtling wird in die Geschichte eingehen.

Dem Semiologen Barthes ging es um das Erkennen von Zeichensystemen in und außerhalb der Sprache . Er untersuchte moderne Phänomene: Texte, Werbebilder, Film, Fotografie, Mode, Sportarten, Autos, Striptease ("ein paar Atome Erotik"), das Beefsteak mit Pommes. Sein berühmtes Buch "Fragmente einer Sprache der Liebe " erscheint gerade wieder bei Suhrkamp.

Barthes stammte aus ärmlichen Verhältnissen, verlor früh den Vater, der im Ersten Weltkrieg fiel. Er reiste viel, hatte kaum Geld. Am 12. November 1980 starb er, als er betrunken von einem Lastwagen erfasst wurde. Er war 65 Jahre alt. In seinem anderen Buch, "Mythen des Alltags" (1957), erklärt der Philosoph: "Der Mythos ist eine Aussage, ein Mitteilungssystem, eine Botschaft." Zeitlebens war er dem auf der Spur. Er sei von Natur aus neugierig, deshalb müsse er "überall hingehen". Die Gegenstände des Alltags - Kleidung, Schuhe, Taschen, Nahrung, Zeitschriften, Möbel, Reklametafeln - waren für ihn nicht nur Dinge. Sie waren aufgeladen mit Zeitgeist und Archaischem. Das machte sie zum Mythos - und der Mythos stellt Sinn her. Das wusste er schon vor der Massenkultur des Konsums. Er war der erste Kulturtheoretiker, der die Allmacht der uns umgebenden Codes zu deuten verstand. Dass heute Jugendliche sieben Stunden pro Tag im Internet verbringen, dazu hätte er viel zu sagen gehabt.

Gegen Ende seines Lebens ging der Spurensucher den Bedeutungen der Liebe nach. Er befand, dass "der Diskurs der Liebe heute von extremer Einsamkeit ist". Das bezog sich auf seine Homosexualität, die damals gesellschaftlich verpönt war. Aber auch auf die vielen Sexualitäten, die in unserer Zeit des Gender-Diskurses diskutiert werden. Barthes war seiner Zeit voraus, er schrieb vom "Code der Liebe , den jeder nach Maßgabe seiner eigenen Geschichte ausfüllen kann". Aber die meisten bleiben allein, in der Angst, nicht verstanden und verlassen zu werden. Barthes hoffte dennoch, dass "eines Tages ein jeder die Sprache nicht seines Geschlechts, sondern seiner Sexualität hätte". Die Liebe blieb für Barthes die Grunderkenntnis des Menschen.

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HintergrundDie Schriftstellerin und Literaturhistorikerin Tiphaine Samoyault hat auf Grundlage bisher unzugänglicher persönlicher Dokumente die erste umfassende Biografie verfasst - sie ist gerade bei Suhrkamp erschienen: Roland Barthes - Die Biografie. Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle und Lis Künzli. 870 Seiten, 39,95 Euro. red

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