Nicht wegschauen

Saarbrücken · Gut recherchiert und von tragischer Aktualität: Jenny Erpenbecks für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman „Gehen, ging, gegangen“ erzählt von afrikanischen Flüchtlingen und unserem Blick auf sie.

Richard hat Zeit im Überfluss, seit er pensioniert ist. Als Professor für alte Sprachen sinniert er über die Zeit: "Vergehen soll sie, aber auch nicht vergehen." Richard lebt allein im Berliner Speckgürtel. Seine Frau ist gestorben, die Geliebte hat ihn erst betrogen, dann ist sie gegangen, Kinder hat er nicht. Aber ein Haus aus der Zeit vor dem Mauerfall besitzt er. Der Altphilologe war als DDR-Bürger geschützt in der akademischen Nische; in seiner Stasi-Akte findet sich die Notiz, er sei politisch unzuverlässig, untauglich für die inoffizielle Mitarbeit. Politik hat Richard nie interessiert. "Vielleicht liegen noch viele Jahre vor ihm, vielleicht nur noch ein paar", schreibt Jenny Erpenbeck in ihrem Roman. "Er hat jetzt einfach nur Zeit."

Dieser Roman zur Lage der Flüchtlinge in Deutschland ist brandaktuell. Mit ihrer Figur Richard erfand die Autorin einen typischen Zeitgenossen, der den Flüchtlingsstrom lange nebenher betrachtet. Bis er auf einmal in die Geschichten der Menschen hineingezogen wird. Erpenbeck ist eine gute Erzählerin, die das Individuelle ihrer Hauptfigur ausbreitet, aber auch die Situation, in die sie gerät, exakt recherchiert darstellt. Ein Tatsachenroman, kein Aufruf zum Gutmenschentum. Eine Geschichte, die, so scheint es, jedem widerfahren könnte: Richard erlebt beim Berlin-Besuch die Demonstration afrikanischer Flüchtlinge , die ihre Identität nicht preisgeben wollen. Sie sitzen vor dem Roten Rathaus, essen und trinken nichts mehr. Die Polizei will übliche Kennmarken, aber die geben sie nicht her. Als ihnen erklärt wird, dass ohne Prüfung, ob sie unter das Asylrecht fallen, nicht geholfen werden kann, schweigen sie. Richard gefällt die "Idee, sichtbar zu werden, indem man öffentlich nicht sagt, wer man ist". Spontan solidarisiert er sich, besucht das Flüchtlingscamp am Oranienplatz und begreift, wie wenig er von den Zugereisten und ihren Heimaten weiß - nicht einmal die Hauptstädte der Staaten, aus denen sie sich auf und davon gemacht haben.

Als Wissenschaftler arbeitet er empirisch, erstellt einen Fragenkatalog und geht auf Einzelne zu. Auf Awad aus Ghana, dessen Vater in Tripolis erschossen wurde; eine libysche Militärpatrouille raubte den Jungen aus und verfrachtete ihn dann auf ein Boot nach Sizilien. Oder Ithemba, den Richard zu seinem Anwalt, der die Abschiebung verhindern soll, begleitet. Ithemba wird angst und bange angesichts der vielen Akten. "Papier kann man nicht essen", sagt er. Schließlich quartiert Richard Flüchtlinge in seinem Haus ein und bringt auch andere dazu, das zu tun. Er versteht, warum diese Menschen geflohen sind. Er versteht nicht, warum sie nicht arbeiten dürfen. Er will die Behörden verstehen, aber das gelingt ihm nicht. Er begreift, dass die Geschichten der Ankömmlinge von niemandem erfragt werden, nicht mal von Kriegsopfern. Es geht nur darum, welches Land für sie zuständig ist. Zugleich betrachtet er sein eigenes Leben und sein Handeln, zieht Vergleiche, kommt zu Erkenntnissen. Die sind wichtig. In diesem Roman geht es ums Verstehen. Beharrlich hält Jenny Erpenbeck an diesem Erzählstrang fest. Da wird schnell klar: Wer Zeit hat, wer sich Zeit nimmt, der versteht mehr.

Jenny Erpenbeck : Gehen, ging, gegangen. Knaus Verlag, 352 Seiten, 19,99 Euro.

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