Der Wunsch, „kein Junge mehr zu sein“

Saarbrücken · Der junge Franzose Édouard Louis erzählt in seinem Roman von einer traumatischen Kindheit. Übertragen hat das gelungene Debüt der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel (siehe Porträt oben).

"An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung. Das soll nicht heißen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär. Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt." Ein Buch, das so punktgenau loslegt, verspricht, uns nicht zu schonen, uns im Gegenzug aber mit jener selbstverliebten Nabelschau zu verschonen, die Bekenntnisliteratur oft prägt. So wie Édouard Louis, der wie der Ich-Erzähler seines Debüts "Das Ende von Eddy" eigentlich Bellegueule heißt, sein Aufwachsen als Homosexueller beschreibt, ist das Leiden tatsächlich totalitär.

Als das Buch 2013 in Frankreich erschien, stand schnell die Frage im Raum, ob dies nicht vielmehr eine Autobiografie sei denn ein Roman, als was "Das Ende von Eddy" nun auch in der deutschen Übersetzung angekündigt wird. In einem Interview hat der Autor - beim Erscheinen gerade mal 20 und Soziologiestudent an der Pariser École supérieur - erklärt, dass Eddys Geschichte seine eigene ist: mit Demütigungen, Übergehungen und Verbiegungen, denen ein nicht mehr für möglich gehaltenes Coming out ein Ende macht.

Die Belleguelles leben in einem Dorf in der Picardie. Eine Unterschichtenfamilie in der Armutsspirale: fünf Kinder und dazu vier Fernseher, die immer laufen. Die Mutter mit abgebrochener Lehre, der Vater Trinker (Pastis und Wein aus Fünfliter-Kartons). Er erklärt die Welt und weiß, was ein echter Kerl ist. Zwei Kinder hat die Frau ihm aus erster Ehe aufgehalst. Umso wichtiger ist das erste eigene: Eddy. Doch der ist mickrig, ängstlich, tuntig. "Falsch gepolt", wie der Vater verächtlich meint. Der Rest ist eine Kette von Erduldungen, Selbstverleugnungen und verzweifelten Versuchen, die eigene Homosexualität gewaltsam zu unterdrücken. Eddy lässt sich von Mitschülern bespucken, empfindet die bornierte Dorfwelt als Tortur und wünscht sich bei jeder Sternschnuppe, "kein Junge mehr zu sein".

Édouard Louis beschreibt sein eigenes Los mit soziologischer Präzision: sachlich, unterkühlt. Ausdruck erzwungener Selbstdistanz, die das eigene Leben wie eine Fallstudie betrachtet. Den nüchternen Erzählfluss durchschneiden immer wieder kursiv gedruckte Phrasen, die das vulgäre Vokabular der Familie, Mitschüler, Dörfler abbilden - und ihre Beschränktheit. So entsteht eine Provinzstudie, die die Qualen eines Opfertyp wie Eddy deutlich macht. Erst seine Flucht in ein Internat macht dem ein Ende.

In diesem gelungenen Debüt nun gleich, wie zu lesen war, große Literatur zu sehen, ist übertrieben. Dazu ist es nicht nur zu absehbar und zu schemenhaft, sondern auch sprachlich zu konventionell, zu unscharf.

Édouard Louis: Das Ende von Eddy. S. Fischer, 206 Seiten, 18,99 Euro.

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