Hoch hinaus aufs Gedankengebirge

2002 gewann dieses Buch den Prix Goncourt, den wichtigsten französischen Literaturpreis. 13 Jahre später erscheint es auf Deutsch. Ein vielschichtiges Werk, bei dem man den Überblick verlieren kann.

Dieses Buch ist eine Schatzkammer, in der man den Überblick verliert. So eigensinnig, so rätselhaft ist vieles: Aphorismen, historische Exkurse, Romananfänge, Naturmagisches. Aus den assoziativen Überlagerungen türmt sich ein Gedankengebirge auf, das kaum zu besteigen ist. Dabei faltet es sich so filigran auf wie ein Origami.

Vor 13 Jahren erhielt Pascal Quignard für diese schwer zu durchdringenden Sprachmeditationen den Prix Goncourt, den wichtigsten französischen Literaturpreis. Nun sind "Die wandernden Schatten" auf Deutsch erschienen. Dosierung ist das probateste Mittel, sich diesen Schatten zu nähern, bei denen es sich im weitesten Sinn um langjährige Inspirationsquellen des Autors handelt.

In gut 50, manchmal nur wenige Absätze umfassende Kapitel unterteilt, mutet Quignards Werk wie die Quintessenz eines gezielt abseits des großen Literaturbetriebs geführten Gelehrtenlebens an. Den 66-Jährigen zog es vor vielen Jahren in die Normandie. Bäume stehen ihm näher als Menschen. Er suche "nur Gedanken, die zittern", schreibt er anfangs. Überlegungen also, die nicht starr bleiben, sondern Regungen verlangen. In Schwingung versetzen ihn "Werke der Alten" Lukrez , Laotse, Descartes, Han Yu, Tanizaki, Walter Benjamin , die Lehren der Eskimos. Sie alle studiert er, denkt sie fort im Zeichen der "Arbeit der Sprache, die abwägt, nachdenkt, hinneigt, sich verausgabt".

Die durchmessenen historischen Bögen sind von einiger Spannkraft. Quignard erzählt von der Hinrichtung des letzten römischen Kaisers Syagrius und dessen Schattenanrufungen, er zeichnet die Wege des Theologen Jean Duvergier de Hauranne alias Saint Cyran nach, einem der Repräsentanten des Jansenismus in Europa, oder er spitzt Historie extrem zu. Etwa, wenn er schreibt, der im Auftrag der US-Regierung handelnde Seeoffizier Matthew Perry habe 1853 in der Bucht von Tokio letztlich die beiden Weltkriege initiiert, indem er Japan den Freihandel aufnötigte und es damit nicht nur revolutionierte, sondern fortan Freiheit auf ganzer internationaler Linie mit Geld gefangen genommen ward.

Ergiebiger als diese historischen Vexierbilder sind Quignards Sprachkritik und die verhandelten philosophischen Fragen. Ein roter Faden ist die Unabgeschlossenheit der Vergangenheit. "Wir sind nur Ableitungen; Sprache, Identität, Körper, Erinnerung, alles in uns ist abgeleitet." Da für Quignard die menschliche Fortschritts- in Wahrheit eine einzige Verfallsgeschichte ist, hält das Verlorene mehr bereit als das Kommende: "Es besteht kein Grund dazu, den Kampf für eine verlorene Sache weiterzuführen. Man kann lediglich die gesellschaftliche Randständigkeit in Dissidenz umwandeln." Wer von der Kunst Verdeutlichung sucht, ist bei ihm grundfalsch. Für ihn muss wahre Kunst uns nur umso tiefer alleine lassen: "Jedes Kunstwerk lässt sich definieren: als elektrischen Schlag, der verdunkelt." Lesenswert ist das dennoch. Es hat etwas von alten Tuschezeichnungen, in die man sich versenkt.

Verweigerung ist Quignards Grundhaltung. Bisweilen mündet sie in Defätismus. Sein Aussteigertum ist absolut: Keine gemeinsame Sache mit der Gesellschaft. Auch Worten ist nicht zu trauen: "Die Sprache sagt: Das ist … Sie hat schon immer vor jeder Frage die Antwort gegeben." So plündert Quignard zuletzt auch die eigene Schatzkammer. Sein Hochamt im "Glanz des Einstigen" mündet in einer Sackgasse. "Man kann der weltweiten Dominanz des Ans-Licht-Bringens nichts Sichtbares entgegensetzen, ohne dass dieses Gegengewicht ihr Opfer bringt", beschreibt er die Ausweglosigkeit der eigenen Verweigerung.

Pascal Quignard: Die wandernden Schatten. A. d. Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Verlag diaphanes, 192 Seiten, 16,95 Euro.

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