Weckruf aus Saarbrücken

Ohne Internet-Anschluss ist Forschung an einer Uni heute praktisch nicht mehr möglich. Doch in der Lehre tun sich die Hochschulen mit digitalen Lehrkonzepten immer noch furchtbar schwer, kritisiert August-Wilhelm Scheer. Der emeritierte Professor der Saar-Universität verlangt nun auf diesem Feld mehr Engagement.

 Viele deutsche Hochschulen tun sich in der digitalen Welt schwer – zumindest was die Lehre angeht. So lautet der Vorwurf von Professor August-Wilhelm Scheer. Auch an der Saar-Universität fehle ein strategisches Gesamtkonzept. Foto: SZ-Archiv/Bellhäuser

Viele deutsche Hochschulen tun sich in der digitalen Welt schwer – zumindest was die Lehre angeht. So lautet der Vorwurf von Professor August-Wilhelm Scheer. Auch an der Saar-Universität fehle ein strategisches Gesamtkonzept. Foto: SZ-Archiv/Bellhäuser

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Saarbrücken. Wenn Politiker über Deutschlands Zukunft nachdenken, fällt schnell das Schlagwort von der "Wissensgesellschaft", in der den Hochschulen die Schlüsselposition zufällt. Sie sollen die Landeskinder fit machen für den globalen Wettbewerb. Doch damit tun sich die meisten Einrichtungen der höheren Bildung in der digitalen Welt schwer, erklärt Professor August-Wilhelm Scheer, bis 2006 Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik der Saar-Universität.

Der 74-jährige Wirtschaftsinformatiker, Kopf der Scheer-Group, eines international agierenden Software-Konzerns, fordert von den deutschen Hochschulen den digitalen Wandel. Die Bildungsanstalten fremdelten, zumindest was die Lehre angeht, immer noch mit dem Internet, so der Software-Unternehmer in einer Denkschrift mit dem Titel Hochschule 4.0. "Doch nur wer diese Transformation bewältigt, wird sich im härter werdenden nationalen und internationalen Wettbewerb behaupten", schreibt Scheer, der mit Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU ) für den IT-Gipfel des kommenden Jahres den Arbeitskreis Digitale Bildung und Wissenschaft vorbereitet.

Nach schwierigen Anfängen hätten sich in der Wirtschaft längst digitale Konzepte der Wissensvermittlung durchgesetzt, vom Autobauer bis zum Burger-Produzenten. Doch an den Hochschulen, die den Nachwuchs an Managern und Ingenieuren ausbilden sollen, verhindere immer noch das gewaltige Beharrungsvermögen des Campus-Apparats den Durchmarsch computergestützter Lernkonzepte. "Die Hochschulen sind im Vergleich zu anderen Branchen, die ich kenne, sehr, sehr weit zurück." Die Saar-Uni mache da keine Ausnahme. Dabei böten gerade in Saarbrücken Kooperationen mit der starken Informatik die Chance, auf dem Gebiet der digitalen Lehre eine bundesweite Vorreiterrolle einzunehmen.

Beim Plädoyer fürs E-Learning geht es Scheer nicht darum, ein paar Vorlesungsskripte mehr als bisher auf die Uni-Server zu legen. Er fordert einerseits eine Aufwertung und andererseits einen grundlegenden Wandel der Lehre an den Universitäten und verweist unter anderem auf das in den USA seit Beginn des Jahrzehnts populäre Modell der Massiv Open Online Courses, kurz MOOC. Das sind digitalisierte Vorlesungen, die ausdrücklich fürs Internet produziert werden und Tausende von Hörern ansprechen sollen. Das Gegenstück dazu ist der SPOC, der "Small Private Online Course", der Spezialthemen mit digitaler Technik für die akademische Kleingruppe aufarbeitet.

Kritik , noch mehr Computertechnik verhindere persönliche Kontakte zwischen Hochschullehrern und Studenten , wischt Scheer beiseite. "Wo gibt's denn den persönlichen Kontakt in einer Uni-Massenveranstaltung mit hunderten Studenten ?" Das E-Learning solle konventionelle Lehrveranstaltungen nicht ablösen, sondern ergänzen. Dozenten könnten sogar durch geschickten Einsatz dieser Technik für Standardvorlesungen die Zeit gewinnen, die sie benötigten, um in Übungen stärker auf Fragen ihrer Studenten einzugehen. Heute offerieren Hochschulen Bildungsabschlüsse von der Stange. "Das ist ein starres System, das Studenten mehr selektiert, als dass es sie fördert", kritisiert Scheer. Zudem deckten sich die an den Universitäten vermittelten Kenntnisse häufig nicht mit den späteren Anforderungen des Berufslebens. Das Internet zeige dagegen bereits heute, dass es kein Problem ist, komplexe Dienstleistungen und Produkte, zum Beispiel ein Auto, fast vollständig an persönliche Bedürfnisse anzupassen. Warum soll so etwas nicht auch bei Uni-Abschlüssen möglich werden, fragt der Wirtschaftsinformatiker.

Digitale Techniken machten Studiengänge möglich, die viel individueller auf die Fähigkeiten des einzelnen Studenten eingehen. Sie ermöglichten, aus einer Auswahl von Lernmodulen ein individualisiertes Studium zusammenzustellen. "Das Lerngebiet passt sich dann dem Studenten an und nicht umgekehrt." Digitale Verfahren erlaubten es Studenten , ihre Lerngeschwindigkeit selbst zu bestimmen, unterschiedliche Lehrformate zu wählen und bei einem Auslandssemester Anschluss an die Vorlesungen zu Hause zu halten. Für die Universitäten sei es so einfacher, auswärtige Studenten auf sich aufmerksam zu machen, ihr Weiterbildungsangebot auszuweiten und das Marketing zu stärken.

Die Digitalisierung der Lehre biete so viele Vorteile, ist Scheer überzeugt, dass ihr Siegeszug unvermeidlich sei - die Frage sei lediglich, ob die Hochschulen bei dieser Entwicklung dabei seien oder dabei unter die Räder kämen. Wobei der Saarbrücker Wirtschaftsinformatiker überzeugt ist, dass staatliche Hochschulen angesichts "ihrer grundsätzlich geringen Änderungsbereitschaft gegenüber neuen Anforderungen" von der Politik noch in die richtige Richtung gelenkt werden müssen. "Die Universitäten sind zu langsam und erkennen ihre Chancen nicht." Die Saar-Universität sei da leider keine Ausnahme. "Ich bedauere, dass es auch in Saarbrücken noch kein strategisches Gesamtkonzept gibt."96 000 Internet-Studenten am Hasso-Plattner-Institut

Potsdam. Das Hasso-Plattner-Institut der Uni Potsdam zählt in Deutschland zu den Vorzeigeeinrichtungen des E-Learnings. Seit September 2012 bietet das Informatik-Institut, an dem auch 480 Studenten in Präsenzveranstaltungen eingeschrieben sind, über seine Internetseite open.HPI.de sogenannte Massive Open Online Courses (MOOC) zu Themen der Informatik für jedermann.

Über 96 000 Teilnehmer aus mehr als 150 Ländern haben sich bisher zu diesen Internet-Lehrveranstaltungen angemeldet. Sie werden meist in Form mehrwöchiger Kurse angeboten, so Pressesprecher Hans-Joachim Allgaier. 17 der Internet-Lerneinheiten hat das Institut bislang produziert. Die Kurse umfassen Lehrvideos und Selbsttests, in denen die Studenten ihren Wissensstand überprüfen können. Dazu gibt es regelmäßige Hausaufgaben, und am Ende steht eine Prüfung. Die Teilnahme ist kostenlos. Teilnehmer, die mehr als die Hälfte der geforderten Punktzahl erreichen, erhalten ein Zertifikat.

Das Institut wertet die Ergebnisse des Programms wissenschaftlich in einer Studie aus. Der typische Teilnehmer, so Hans-Joachim Allgaier, sei 30 bis 40 Jahre alt und betreibe das Internet-Studium berufsbegleitend, um sich auf dem neuesten Stand des Wissens zu halten.

Die bisher produzierten Unterrichtseinheiten bleiben auf den Seiten des Instituts abrufbar. Im Herbst ist eine Neuauflage des Anfängerkursus im Programmieren geplant.

open.HPI.de

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