„Mit kühlem Kopf und nicht zu heißem Herzen“

Saarbrücken · Die Veröffentlichung von geheimen TTIP-Unterlagen sorgte diese Woche für eine hitzige Debatte, die die Anzahl der Gegner des Handelsabkommens zwischen der EU und den USA weiter anstiegen ließ. Laut ARD-Deutschlandtrend betrachtet die Mehrheit der Deutschen das Abkommen als negativ. Wie er den Verhandlungen gegenübersteht und welche Zugeständnisse er von den USA erwartet, hat der Europa-Abgeordnete Jo Leinen (SPD) SZ-Redaktionsmitglied Jasmin Kohl erklärt.



Die SPD-Linke im Bundestag fordert den Abbruch der Verhandlungen. Wie stehen Sie dem gegenüber?
Leinen:
Es ist gut, dass Licht in das Dunkel der Verhandlungen kommt und die Dokumente jetzt der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Das ist aber kein Grund, den Prozess der Verhandlungen zwischen der EU und den USA zu stoppen, weil sich in den Dokumenten Dinge wiederfinden, die wir auch so schon gewusst haben. Das ist jetzt keine sehr große Neuigkeit, jedenfalls nicht für diejenigen, die mit dem Thema TTIP zu tun haben.
Es gibt politische Kräfte, die sind prinzipiell gegen TTIP. Im Europaparlament können wir es uns aber nicht so einfach machen, weil wir letztendlich Ja oder Nein zur Ratifizierung dieses Abkommens sagen müssen. Wir wünschen uns, dass die Handelsbeziehungen über den Atlantik hinaus erleichtert werden. Man darf nicht vergessen, dass Europa mehr nach Amerika exportiert als Amerika nach Europa und wenn es ein Land in der EU gibt, was von TTIP profitiert, dann ist es ausgerechnet Deutschland, wo wiederum der Widerstand am Größten ist. Wir haben insofern eine etwas verzwickte Lage, die man doch mit kühlem Kopf behandeln muss und nicht mit zu heißem Herzen.

Im Europaparlament sind Sie Stellvertreter des Ausschusses für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Welche Erwartungen setzen Sie vor diesem Hintergrund in das Abkommen?
Leinen:
Verbraucher - und Umweltschutz hat in Europa ein hohes Niveau und das darf nicht durch Handelsankommen gefährdet werden. Das gilt ja nicht nur für die USA sondern auch für asiatische Länder, mit denen wir Abkommen machen, sei es Südkorea, Japan oder vielleicht in Zukunft Indien und China. Da würden ja ähnliche Forderungen laut. Bei einem Handelsabkommen Standards zu senken, das ist ein No-Go für das Europaparlament und für mich persönlich auch.

"Sicherheit vor Schnelligkeit" fordert Bernd Lange (SPD), Vorsitzender des Handelsausschusses im Europaparlament, für die weiteren TTIP-Verhandlungen. Stimmen Sie damit überein?
Leinen:
Es gibt keinen Zwang zur Eile. Der Wirtschaftsraum über den Atlantik ist der größte Handelsraum weltweit, da kann es und da sollte es Verbesserungen im gegenseitigen Interesse geben, aber Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Ich glaube, dass es für die Bevölkerung in Europa wie auch für die Bürger und Bürgerinnen in den USA wichtig ist, Klarheit darüber zu haben, was in einem solchen Abkommen steht und Sicherheit zu haben, dass die jeweiligen Kulturen respektiert werden. Die Amerikaner sind Freunde Europas, aber sie ticken auch vielfach anders als die Europäer. Ich nenne die Gentechnik, die wird in Amerika weitläufig akzeptiert, in Europa wird sie abgelehnt. Oder der Datenschutz: Daten sind in Amerika eine Handelsware, in Europa sind sie ein Teil der Persönlichkeitsrechte, die wir nicht ohne Zustimmung hergeben wollen. Ich könnte die Liste fortführen. Die Europäische Lebensart, die muss gewahrt werden, genauso wie wir akzeptieren müssen, dass es den "American way of life" gibt.

Welche Zugeständnisse erwarten Sie konkret von den USA?
Leinen:
Es gibt die drei Kernpunkte, die über das Ja oder das Nein zu TTIP entscheiden: Das ist die Wahrung des Rechtsstaates, die Wahrung des Sozialstaates und die Wahrung der Demokratie. Wir wollen keine Handelsgerichte, die von Rechtsanwaltsbüros betrieben werden, sondern einen öffentlichen Handelsgerichtshof. Wir wollen in eigener Zuständigkeit über Umwelt-, Verbraucher-, und Sozialstandards entscheiden können und nicht durch ein Regulierungskomitee mit Vertretern der Industrie gezwungen werden, Standards zu verändern. Über Normen, Vorschriften und Gesetze entscheidet in Europa der Gesetzgeber, also das Parlament, und nicht ein Regulierungskomitee.

Besteht noch eine Chance, dass die TTIP-Verhandlungen bis zu den US-Präsidentschaftswahlen im November abgeschlossen werden?
Leinen:
Es gilt der bekannte Spruch "Wo ein Wille, da ein Weg". Wenn beide Seiten dieses Abkommen wollen, dann wäre ausreichend Zeit bis Ende 2016 einen Vertragsentwurf vorzulegen, der auch unterschrieben werden kann. Danach muss ja noch die Ratifizierung kommen, die sich sicherlich über 2017/2018 erstrecken würde. Denn sie erfolgt durch das Europaparlament und bei einem gemischten Abkommen wie TTIP auch durch 28 nationale Parlamente, womöglich auch noch in beiden Kammern, das wären dann also 56 nationale Parlamente wie auch durch den US-Kongress. Bis TTIP in Kraft tritt, vergeht also noch viel Zeit.

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