Eine Mannschaft wird zur globalen Marke

London · Die heute beginnende Rugby-Weltmeisterschaft ist die größte Sportveranstaltung in diesem Jahr. Als Titelfavorit gehen die „All Blacks“ aus Neuseeland ins Rennen. In ihrer Heimat sind sie sogar wichtiger als die Politik.

Für die einen ist es das größte Sportereignis des Jahres, für die anderen die längste Sauf-Orgie ihres Lebens. So oder so wird die heute beginnende Rugby-WM in England und Wales ein Turnier der Superlative werden. 28 Jahre nach der ersten WM scheint die Zeit reif, in neue Dimensionen vorzustoßen. Bislang wurden 2,4 Millionen Karten für die 48 Spiele abgesetzt, die auf dem Schwarzmarkt in der Spitze für bis zu 3400 Euro gehandelt werden. Die Veranstalter erwarten Einnahmen von 545 Millionen Euro. Und auch die teilnehmenden Verbände werden erstmals fürstlich entlohnt, nachdem der Titelverteidiger Neuseeland damit drohte, andernfalls gar nicht anzutreten.

Legionäre unerwünscht

Es ist eine rasante Entwicklung, wenn man bedenkt, dass Rugby bis 1995 als reiner Amateursport galt. Noch 2007 benannte sich Tongas Nationalspieler Epi Taione in Paddy Power um, weil der gleichnamige Wettanbieter im Gegenzug die WM-Vorbereitung seiner Mannschaft finanzierte. Heute hat Taione seinen alten Namen zurück und ist der Verbandspräsident seines Landes. Sein schönster Erfolg: Tonga kann inzwischen aus eigener Kraft Trainingslager bezahlen.

Die Kommerzialisierung hat freilich nicht unbedingt zu einer Professionalisierung unter den Funktionären beigetragen. Die Franzosen etwa, Mitfavorit auf den WM-Pokal, sind vor ihrem Auftaktspiel auf der Suche nach einem neuen Mannschaftsquartier. Sie hatten versäumt, ihre Luxusbleibe im Süden Londons exklusiv für sich zu buchen - und waren schockiert ob der Trinkfestigkeit und Lautstärke einer Hochzeitsgesellschaft, die am vergangenen Wochenende direkt unter den Zimmern der Spieler feierte.

Die Engländer, ebenfalls Titelkandidat und ganz Gentlemen, verzichten auf zwei ihrer besten Spieler. Jungstar Manu Tuilagi wurde in der vergangenen Woche wegen Körperverletzung gegen zwei Polizistinnen zu einer Geldstrafe verurteilt und daraufhin vom Verband bis Januar 2016 suspendiert. Steffon Armitage, 2014 zu Europas bestem Spieler gekürt, wurde ebenfalls nicht nominiert. Sein Fehltritt? Er spielt für einen französischen Verein. Tatsächlich bestehen viele Verbände darauf, keine Legionäre einzusetzen.

Australien hat diese Regel zuletzt gelockert, doch in Neuseeland wird sie mit ganzer Härte durchgesetzt, um die eigene Liga zu stärken. Einige Spieler erliegen zwar dem Ruf des Geldes aus Europa, doch die meisten Stars bleiben in der Heimat , um sich das Trikot der "All Blacks" überzustreifen - und die geringeren Gehälter mit privaten Werbeverträgen auszugleichen.

Für die Fans in Neuseeland finden die meisten WM-Spiele auf Grund der Zeitverschiebung derweil lange vor dem Morgengrauen statt. Und weil man die "All Blacks" nur im Bezahl-TV zu sehen bekommt, nahm die Regierung sogar eine Gesetzesänderung vor. Für Bars, die die WM-Spiele live übertragen, wird die Sperrstunde aufgehoben. Ein Kneipier hat ausgerechnet, dass sein Pub an manchen Tagen 23 Stunden am Stück geöffnet sein wird. Kritiker befürchten, dass die WM so zu einem Sauf-Exzess verkommt - doch ihre Stimmen werden überhört.

Nationale Angelegenheit

Rugby ist "Down Under" eine nationale Angelegenheit. Das zeigt sich nicht nur daran, dass der WM-Kader im Parlament bekannt gegeben wurde, sondern auch daran, dass die Rugby-Mannschaft der Abgeordneten auf Sponsorenkosten für zwei Wochen nach Großbritannien reist. Dass auch zwei Minister dabei sind und dafür auf Parlamentssitzungen verzichten, hat keine Empörung ausgelöst. Schließlich gehört es für Premierminister John Key zum guten Ton, sich regelmäßig nach den Spielen in der Kabine der "All Blacks" einzufinden.

Rugby ist in Neuseeland seit jeher wichtiger als Politik, und das liegt nicht zuletzt an den Erfolgen der "All Blacks". Sie prägen diesen Sport wie keine andere Mannschaft, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass acht von 20 WM-Mannschaften einen neuseeländischen Trainer haben. Sie haben sich zu einer globalen Sportmarke entwickelt. Das inspirierte Premierminister Key, ein Referendum anzuschieben, mit dem 2016 über die Nationalflagge entschieden wird. Er will die Fahne mit dem "Union Jack" der alten Kolonialmacht Großbritannien ersetzen, zumal sie auch nicht selten mit der Flagge des großen Nachbarn Australien verwechselt wird. Sein Wunschmotiv ist der Silberfarn, den auch die "All Blacks" tragen. Der neuseeländische Rugby-Verband hat sicherheitshalber schon mal darauf hingewiesen, dass sein Logo markenrechtlich geschützt ist.

Ist der Favorit nur heimstark?

Bei all dem Kult um die "All Blacks": Ebenso legendär wie ihr Kriegstanz, der Haka, den sie vor jedem Spiel aufführen, ist ihre Unfähigkeit, den Titel fern der Heimat zu holen. Zwei Mal haben sie ihn in Auckland gewonnen, sechs Mal sind sie anderswo als Favorit vorzeitig gescheitert. Diesen Bann wollen sie nun brechen und zugleich die erste Mannschaft werden, die ihren Titel verteidigt. Vorsorglich stellt Trainer Steve Hansen klar, dass seine Mannschaft nicht mehr viel mit den Weltmeistern von 2011 gemein hat. Schließlich stehen 17 Akteure im 31-Mann-Aufgebot, die damals nicht dabei waren. "Wir wollen den Titel nicht verteidigen, weil er uns nicht gehört. Wir wollen ihn gewinnen", sagt Hansen.

Die Hoffnungen ruhen auf Altstar Richie McCaw, der nach der WM seine Karriere beenden wird. Er wird zeitnah in den Ritterstand erhoben werden. Von derlei Ruhm ist Waisake Naholo weit entfernt, doch er dürfte die Geheimwaffe der "All Blacks" werden. Bei seinem ersten und bislang einzigen Länderspiel im Juli hatte er sich einen Wadenbeinbruch zugezogen, der ihn normalerweise drei Monate auf Eis gelegt hätte. Doch dank alternativer Heilmethoden soll Naholo bis zum dritten Gruppenspiel fit werden. Laut dem 24-Jährigen wurde die Wunderheilung durch Massagen und Blätter, die ihm aufgelegt wurden, möglich. Das klingt doch wieder ein bisschen nach 1995, der Zeit der traditionsbewussten Amateure, die im Rugby nah und fern zugleich scheint.

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HintergrundIn London-Twickenham beginnt heute mit der Partie England gegen Fidschi (21 Uhr/Eurosport) die 8. Weltmeisterschaft im 15er-Rugby. Um den Titel kämpfen 20 Mannschaften, eingeteilt in vier Fünfergruppen. Gespielt wird in zehn englischen Städten sowie in Cardiff in Wales. Das Finale findet am 31. Oktober ebenfalls in Twickenham statt. Teilnehmer: Gruppe A: Australien, England, Wales, Fidschi, Uruguay; Gruppe B: Südafrika, Samoa, Schottland, Japan, USA; Gruppe C: Neuseeland, Argentinien, Tonga, Georgien, Namibia; Gruppe D: Frankreich, Irland, Italien, Kanada, Rumänien. Deutschland ist nicht qualifiziert.Modus: In der Gruppe spielt jeder gegen jeden. Die Ersten und Zweiten jeder Gruppe qualifizieren sich für das Viertelfinale. Danach wird bis zum Finale im K.o.-System weitergespielt. Insgesamt sind es 48 WM-Partien.Die bisherigen Weltmeister: 1987: Neuseeland; 1991: Australien; 1995: Südafrika; 1999: Australien; 2003: England; 2007: Südafrika; 2011: Neuseeland. dpa

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