Dornröschens Schloss in der City

Saarbrücken. Fremder kommst du nach Saarbrücken - wirf unbedingt 'nen langen Blick aufs Rathaus St. Johann. So was sieht man nicht alle Tage. Da steht keiner von diesen kalten, modernen Verwaltungsklötzen aus grauem Stahlbeton mit verspiegelten Fensterhöhlen - wo jeder schon am Eingang spürt: Hier wird der Mensch zur Nummer. Nein!In St. Johann ist das ganz anders

Saarbrücken. Fremder kommst du nach Saarbrücken - wirf unbedingt 'nen langen Blick aufs Rathaus St. Johann. So was sieht man nicht alle Tage. Da steht keiner von diesen kalten, modernen Verwaltungsklötzen aus grauem Stahlbeton mit verspiegelten Fensterhöhlen - wo jeder schon am Eingang spürt: Hier wird der Mensch zur Nummer. Nein!

In St. Johann ist das ganz anders. Da gibt's eine romantische, neugotische Burg aus rotem Sandstein. An der Fassade kämpft ein edler Ritter gegen einen wilden Drachen. Sinnbild für die Arbeit der Verwaltung, die ihre Bürger schützt?

Im neugotischen Stil

Auch das Rathaus selbst ist so ein Sinnbild. - Paradoxerweise für den Willen des St. Johanner Bürgertums zur Unabhängigkeit von Saarbrücken und für den Führungsanspruch der St. Johanner im Tal der Saar.

Am 24. Juni wird das Rathaus mit dem Ritter hundertundzehn Jahre alt. Die SZ wagte einen Blick in die Geschichte - unter Anleitung von Stadt-Archivarin Irmgard Becker. Sie erklärte uns, warum das Rathaus St. Johann so und nicht anders aussieht. Zwei Faktoren sind im Spiel. Erstens: Als das Gebäude entstand, war der neugotische Stil ganz groß in Mode. Solche Rathäuser sollten zeigen, welch' beeindruckende Rolle die Städte in den blutigen Wirren der deutschen Geschichte gespielt hatten, - vor allem jene Städte, die in Wirklichkeit nie bedeutend waren, wie Spötter behaupten. Was auf St. Johann natürlich nicht zutrifft! Der zweite Grund für die neugotische Fassade ist viel komplizierter. Da müssen wir gewaltig ausholen. Bis ins Jahr 1322. Damals bekamen Saarbrücken (das heutige Alt-Saarbrücken) und St. Johann gleichzeitig Stadtrecht. Das Besondere: Beide wurden einem "gemeinsamen Stadtgericht" unterstellt. Seither konkurrierten sie, wo immer es ging.

1798 zwangen die Franzosen Saarbrücken, St. Johann, Malstatt, Burbach und St. Arnual in eine "Mairie" (Bürgermeisterei-Bezirk). 1815 kamen die Preußen. Überraschend ließen sie alles, wie es war und tauften nur die "Mairie" um in "Landbürgermeisterei".

Doch St. Johann wuchs viel schneller als seine "Partner" und bekam 1852 sogar den Eisenbahnanschluss. Denn in St. Johann hatten Kaufleute und die ersten Industriellen das Sagen. Und die wollten den "Ballast" Saarbrücken samt der Dörfer gern loswerden. 1856 schlug ihre große Stunde. Die neue Rheinische Städteordnung ermöglichte die "Scheidung" des gezwungenen Quintetts. 1862 wählte St. Johann seinen ersten "eigenen" Bürgermeister seit 1322. Und 1888 kam Paul Alfred Neff als vierter Bürgermeister von St. Johann ins Amt. Auf seine Empfehlung wählte der Stadtrat Wilhelm Franz zum Bau-Dezernenten. Franz hatte dasselbe Amt auch schon in Wiesbaden bekleidet und dabei Ritter Georg von Hauberrisser (FotoSZ/Stadt) kennengelernt, als der in Wiesbaden ein neues Rathaus baute. (Auch das in München stammt von Hauberrisser.) Franz ließ sich von Hauberrisser einen Entwurf für das Rathaus St. Johann machen, den präsentierte er am 30. Juli 1896 im Stadtrat. Und der Rat war begeistert. Damals gab es 18 Stadtverordnete (heute 63). Die acht Spitzensteuerzahler der Stadt bestimmten allein sechs davon. Die "mittlere" Gruppe der Steuerzahler wählte weitere sechs; ebenso viele blieben für die Kleinverdiener. Wer keine Steuern zahlte, arm, arbeitslos oder eine Frau war, hatte keine Stimme. Dieses System hieß Zensus-Wahlrecht. Die Stadtverordneten, die sich für Hauberrissers Entwurf begeisterten, waren also vorwiegend Leute, die glaubten, das Geld der Stadt sei im Grunde immer noch Teil ihres Privat-Vermögens.

Keine Hemmungen

Also hatten sie auch keine Hemmungen, sich ab und zu mal was zu gönnen, in diesem Fall ein Rathaus im Dornröschen-Stil. Mit einem Turm, der auch noch in Saarbrücken von der Souveränität und dem Führungswillen St. Johanns zeugen sollte. Kalkulierte Kosten: 400 000 Reichsmark. Tatsächliche Kosten ohne Interieur: 600 000. Als ihr Schlösschen 1900 fertig war, feierten die St. Johanner zwei Tage lang - am 23. und 24. Juni, dem St. Johannis-Tag. Als 1909 St. Johann, Saarbrücken und Malstatt-Burbach "wiedervereinigt" wurden, war völlig klar: Die Stadtverwaltung kommt ins Dornröschen-Schloss!

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